Laut § 15 Strafgesetzbuch (StGB) ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, das Gesetz stellt ein bestimmtes fahrlässiges Verhalten ausdrücklich unter Strafe.
Es kommt jedoch hin und wieder vor, dass sich ein Täter bei seiner Tatausführung über bestimmte Umstände irrt. Dann stellt sich die Frage, ob er überhaupt vorsätzlich oder schuldhaft gehandelt hat.
Im folgenden Ratgeber stellen wir den sogenannten Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB genauer vor und erläutern verschiedene Fallkonstellationen.
Inhaltsverzeichnis
FAQ: § 16 StGB
Ein Straftäter kann sich auf verschiedenen Ebenen irren, in tatsächlicher Hinsicht, weil er nicht alle Tatumstände kennt oder in rechtlicher Hinsicht, zum Beispiel weil er sein Verhalten für strafbar hält, obwohl es das gar nicht ist. Oder er glaubt, sein Handeln wäre erlaubt, obwohl es verboten ist. Hier erläutern wir genauer, was ein Tatbestandsirrtum ist.
Nach § 16 StGB liegt ein Tatbestandsirrtum vor, wenn der Täter „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Er handelt dann nicht vorsätzlich, muss sich aber unter Umständen wegen Fahrlässigkeit vor dem Strafgericht verantworten, wenn sein Handeln strafbar ist, z. B. als fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung.
Bei einem Verbotsirrtum irrt sich der Täter auf rechtlicher Ebene. Er glaubt zum Beispiel, dass er sich so verhalten darf, wie er es tut. Tatsächlich ist sein Handeln aber strafbar. Ein solcher Irrtum führt nur dann zur Straflosigkeit, wenn er nicht vermeidbar war. Das kommt in der Praxis und in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur sehr selten vor.
Tatbestandsirrtum an einem Beispiel erklärt
Am einfachsten lässt sich der Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB am Beispiel eines Totschlags erklären. Laut § 212 Abs. 1 StGB muss der Täter folgende Tatbestandsvoraussetzungen erfüllen, um wegen Totschlags bestraft werden zu können:
- Tötung
- eines (anderen) Menschen
- Vorsatz
Dabei muss sich der Vorsatz des Täters sowohl auf die Tötung als Tathandlung als auch auf das Opfer, den anderen Menschen, beziehen. Er muss also mindestens billigend in Kauf nehmen, dass er mit seinem Verhalten einen Menschen tötet. Fehlt ein solcher Vorsatz, scheidet eine Bestrafung nach § 212 StGB aus.
Denn nach § 16 I 1 StGB handelt derjenige nicht vorsätzlich, der „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“.
Beispiel: Ein Schütze schießt im Wald auf ein Objekt, das er für einen Baumstumpf handelt. Tatsächlich handelt es sich um einen Pilzsammler. Der Pilzsammler wird tödlich getroffen.
In diesem Beispielfall tötet der Schütze zwar einen anderen Menschen. Laut § 16 StGB handelt er aber nicht vorsätzlich, weil er niemanden töten wollte. Der Täter weiß nicht einmal, dass er auf einen Menschen zielt. Deshalb scheidet eine Strafbarkeit wegen Totschlags aus. Allerdings muss sich er wohl wegen fahrlässiger Tötung vor dem Strafgericht verantworten.
Nicht jeder Fall ist so eindeutig wie das obige Beispiel. Die Irrtumslehre im Strafrecht kennt verschiedene Konstellationen:
- Error in persona vel in objecto
- Aberratio ictus
- Irrtum über den Kausalverlauf
Error in persona: Tatbestandsirrtum laut § 16 StGB oder Motivirrtum?
In unserem obigen Beispiel irrt der Täter über das Tatobjekt – der juristische Ausdruck für das vom Täter anvisierte Ziel. Er glaubt, auf eine Sache zu schießen und zielt tatsächlich auf einen Menschen. Das ist ein relevanter Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB, dem Juristen die lateinische Bezeichnung „Error in persona vel in objecto“ gegeben haben. Übersetzt heißt das in etwa: „Irrtum über eine Person oder ein Objekt“.
Zweites Beispiel: Ein Schütze möchte den Maier erschießen. Eines Abends lauert er ihm mit einem Gewehr auf. Schließlich gerät eine Person ins Fadenkreuz, die der Schütze für den Maier hält. Tatsächlich ist es aber der Müller, den er erschießt.
In diesem Fall weiß der Schütze, dass er auf einen Menschen zielt. Er irrt sich lediglich über dessen Identität. Das ist zwar auch ein „Error in persona“ – dieses Mal aber in Gestalt eines unbeachtlichen Motivirrtums. Denn § 212 StGB stellt ausdrücklich die Tötung eines Menschen unter Strafe – wer dieser Mensch genau ist, spielt dabei keine Rolle.
Aus diesem Grund handelt der Schütze im zweiten Beispiel vorsätzlich. Er wollte einen Menschen töten und tat das auch. Es liegt damit kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB vor.
Aberratio ictus: Dicht daneben ist auch vorbei
Drittes Beispiel: Der Schütze hat auch dieses Mal kein Glück: Er lauert dem Maier erneut auf und bekommt ihn auch vor sein Gewehr. Doch in dem Moment, in dem der Schütze abdrückt, bückt sich Maier, um seine Schuhe zuzubinden. Der Schuss verfehlt ihn, trifft dafür aber die hinter ihm stehende Ehefrau. Sie stirbt, Maier flieht.
Juristen bezeichnen diesen Irrtum als „Aberratio itctus“, zu Deutsch: Fehlgehen der Tat. Der Täter visiert sein Opfer an. Dann kommt aber alles anders, ohne dass der Schütze Einfluss darauf hat. Er trifft ein anderes Opfer. Deshalb tritt nicht der vom Täter gewünschte „Erfolg“ – Tod des Maiers – ein, sondern etwas ganz anderes Ereignis, in unserem Beispiel der Tod der Ehefrau.
Juristen streiten darüber, ob ein solcher Irrtum den Vorsatz aufgrund von § 16 StGB ausschließt. Die einen verneinen das und gehen von einer vorsätzlichen Tötung aus. Die herrschende Meinung vertritt hingegen eine andere Ansicht:
- Versuch der beabsichtigten Straftat, also versuchter Totschlag des Maier und
- fahrlässige Straftat hinsichtlich des eingetretenen „Taterfolgs“ (sofern strafbar), das heißt fahrlässige Tötung der Ehefrau
Hätte der Schütze nur die Haustür getroffen und nicht dessen Ehefrau, dann bliebe es wohl bei einem versuchten Totschlag des Maier. Fahrlässige Sachbeschädigung gibt es nämlich nicht.
Irrtum über den Kausalverlauf: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
Es gibt im Strafrecht noch ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, das immer vorliegen muss – die Kausalität.
Das heißt, dass das Handeln des Täters (der Schuss) für den Taterfolg (die Tötung) ursächlich gewesen sein muss. Der Vorsatz des Straftäters muss sich damit auch auf die wesentlichen Umstände des Kausalverlaufs beziehen.
Manche Dinge lassen sich nicht vorhersehen, sodass das Geschehen völlig anders abläuft, als vom Täter geplant. Deshalb stellt sich manchmal die Frage, ob ein Irrtum über die Kausalität den Vorsatz nach § 16 StGB ausschließt.
Im Leben lassen sich nie alle Details eines Geschehens vorhersehen. Deshalb liegt nur dann ein relevanter Tatbestandsirrtum vor, wenn der Kausalverlauf „außerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren liegt und dies eine andere Bewertung der Tat rechtfertigt“.
Kira N. sagt
Vielen Dank für diesen Beitrag über den Tatbestandsirrrtum. Gut zu wissen, dass man nur noch wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft werden kann, wenn man einem Tatbestandsirrtum aufgelaufen ist. Ich habe gerade ein Verfahren und werde mal bei einer Rechtsanwaltskanzlei für Strafrecht nachfragen, ob das in meinem Fall in Betracht kommen könnte.